Theater als Text

Der schon seit dem Ende der sechziger Jahre feststellbare Wertgewinn der dramatischen Produktion kam nach der Stabilisierung des Theaterlebens Mitte der neunziger Jahre zu einem Punkt, der jede Erwartung übertraf.

Es liegt wohl daran, dass es noch einen allgemeinen Glauben an das Theater als solches gibt und dass die Fernsehdrehbücher als Aderlass noch nicht richtig funktionieren (in dem Bereich ist der Import der "Fertigwaren" aus dem Westen noch massgebend). Überdies hat eine neue Generation Literaten hier eine Nische entdeckt, die jener der Eltern und Großeltern ähnelte und dadurch leichter handzuhaben ist.

Um den Einstieg zu meiner Übersicht zu erleichtern, greife ich zum literarischen Kanon der rumänischen Nachkriegsliteratur, der 2001 erschienenen "Liste von Manolescu".(1) Der Professor für Literatur an der Bukarester Universität hat in drei Bänden seine Buchbesprechungen zwischen 1962 und 1993 nochmals veröffentlicht. Von den insgesamt 1200 Seiten sind nur 15 ausschließlich dem Theater gewidmet und diese beschränken sich auf vier Dramatiker: Radu Stanca, Teodor Mazilu, Ion Băieșu und Marin Sorescu. Man muss aber hinzufügen, dass Manolescu als einer der kompetentesten Romantheoretiker gilt, und dass viele Autoren, die auch dramatische Texte verfasst haben, in den Abteilungen "Poesie" oder "Prosa" zu finden sind. Hinzufügen sollte man auch, dass Radu Stanca und Teodor Mazilu schon 1962 bzw. 1980 gestorben sind.

Dramatiker - ein grauenhaft schöner Beruf, gerade in Rumänien. Bis zu Ceaușescus Sturz und Erschießung schufen sie, Stück für Stück, ihre dramatischen Texte,(2) mit Begabung und handwerklichem Können, vermieden aber wie die Mäander der Donau eine radikal-dramatische Hinterfragung der rumänischen Wirklichkeit. Keine einschneidende Direktheit wie bei Heiner Müller, auch wenn man diesen Dramatiker aus anderen Gründen nicht gerade gerne als Referenz gibt. Aber das Verharren in den Oberflächenschichten dessen, was real und gehaltvoll die Grundlage des Theaterfluidums ausmachte, war nur Projektion und zugleich Bestätigung des politischen Systems. Schlimmer war wohl die Tatsache, dass jeder neue dramatische Text von mehreren Seiten her verhunzt wurde. Da gaben sich die Mitmischer die Klinke in die Hand: die Zensur, die Regisseure mit den sonderbarsten Wünschen, der Theaterdirektor, die "Prima-diva-urbae", nicht zuletzt auch die Ausführenden des werktätigen Kollektivs. Am Ende war alles absurder als absurd. Die Zensur wurde seit Beginn der achtziger Jahre offiziell für abgeschafft erklärt, weil die Werktätigen angeblich sowieso alles besser wussten und folglich bestimmen sollten, was gut und was schlecht sei. Indessen war jedem vom rumänische Theater klar, wie und welche Leute das Sagen hatten: rückratslose Provinzfunktionäre, eitle und karrieresüchtige Jungregisseure, plötzlich geläuterte Nationalisten. Mit einem Wort, das Theater wurde zum Schauplatz praktischer Mentalitätserkundung. Die Uraufführung glich einem Spiessrutenlauff und erinnerte viele an Golgotha. Und dann flüchtet der Diktator noch mit einem bereitgestellten Hubschrauber vom Dach seines Hochhauses, wie in einem Krimi mit Bankräubern - siehe da, er wird gefasst und guckt noch einmal auf seine Uhr. Ich mache absichtlich diesen zeitlichen Abstecher - wie viele Stunden werden über Hitlers letzte Augenblicke immer wieder gesendet - um uns diesen Schnittpunkt näher zu bringen, den man in Deutschland Ende 1989 nur noch mit den einen Wort "Wahnsinn!" zu kommentieren vermochte. In Rumänien war alles mehr als eine Farce. Was folgte? Prozess, Verurteilung im Namen des revolutionären Volkes, Hinrichtung. Alles andere als die vielbeschworene dako-rumänische Heldenhaftigkeit, dafür Tag und Nacht im Fernsehen. In dieser Extremsituation, vermute ich, dass die Dramatiker, die Beruf und Berufung aufrichtig verinnerlicht hatten, mit den Grenzen ihres Tuns konfrontiert worden sind. Eine Art "ästhetischer Insuffizienz", im positiven Sinne Motor jedes künstlerischen Tuns, war für die wirklich Selbstkritischen offensichtlich geworden. Es motivierte sie, inne zu halten und eine sonderbare Krankheit bei sich und der unmittelbaren Wirklichkeit zu konstatieren. Denn Dramatiker brauchen den Applaus der Erstaufführung, sie messen sich insgeheim mit Shakespeare und, in Rumänien, natürlich mit Ion Luca Caragiale und Eugène Ionesco. Aber im Fernsehen wurde in einem schäbigen Kasernenhinterhof eine reale Exekution gezeigt, die dann landesweit bejubelt wurde. Ein Teil der Erstarrung, gegen die das Theater angekämpft hatte, war äußerst dramatisch "gelöst" worden, und der Dramatiker war nur einfacher Zuschauer gewesen, ein Zuschauer wie jeder andere. Wäre dies nicht eine gewisse Erklärung für eine Art Erschütterung, die letztlich zu einigen Todesfällen geführt hat? Nach 1990 starben viele, die von Talent gesegnet waren - u.a. die vorhin genannten Dramatiker Ion Băieșu (1992) und Marin Sorescu (1997). Aber auch Lucia Demetrius (1992), Gheorghe Vlad (1992), Leonida Teodorescu (1994), Valentin Silvestru (1996) und Tudor Popescu (1999).

Der Tod von Ion Băieșu war ein sehr großer Verlust. Er war einer der originellsten Dramatiker und seine Prosa hatte nach 1967 oft als Vorlage für Drehbücher wichtiger Filme gedient. Ihn und Marin Sorescu habe ich 1979 in meiner Untersuchung zur rumänischen Nachkriegsdramatik ausführlich behandelt.(3) Inzwischen kann man auf die vielfältigen Möglichkeiten des Internets hinweisen, die meiner Darstellung zugute kommen. Dort findet man das Portal des Institulul de Memorie Culturală(4) aus Bukarest. Wenn man Arte interpretative anwählt, eröffnet sich dem Interessenten der Einblick in die Theaterentwicklung der letzten Jahre - u.a. die elftausend Premieren seit 1944. Klickt man weiter, sind unter Personalități die Autoren, Regisseure, Bühnenbildner und Schauspieler alphabetisch abrufbar. Da es sich aber nur um in Rumänien stattgefunden Theaterereignisse handelt, muss man sich die Entwicklungen aus der Republik Moldau oder aus Westeuropa, sowie die Veröffentlichungen, Textsammlungen etc. zusätzlich erarbeiten.

Um aber bei der Dramatik als literarische Gattung zu bleiben: Es ist beachtenswert, einen Blick auf die anderen Autoren zu lenken, die ich 1979 behandelt habe und die unter den neuen sozial-politischen Bedingungen weiter Theaterstücke schreiben, die sogar aufgeführt werden, obwohl sie bis 1989 auch wichtige kulturpolitische Funktionäre waren. Anders als der Generationenwechsel Mitte der sechziger Jahre vollzog sich der neuerliche in aller Härte und Deutlichkeit. Dumitru Radu Popescu war der letzte Leiter des Schriftstellerverbandes nach kommunistischem Muster. Er hatte als vielversprechendes Talent in den sechziger Jahren debütiert. Die kulturpolitischen Machtstrukturen schadeten danach offensichtlich seiner literarischen Arbeit. Inzwischen ist er korrespondierendes Mitglied der rumänischen Akademie. Schaut man sich die Autorenliste(5) meiner Untersuchung an, sieht man, dass er auch nach 1989 sehr produktiv gewesen ist. Leider lässt es der Platz nicht zu, exemplarisch einen seiner neuesten dramatischen Texte genauer zu untersuchen. Die Besprechungen seiner Stücke, die aufgeführt wurden, zeigen, dass es ihm nicht wieder gelungen ist, die dramatische Konzentration seiner Frühwerke zu erreichen. Dasselbe gilt auch für Dan Tărchilă, den ich auch 1979 näher betrachtet hatte, und der bis 1989 nicht nur als Dramatiker, sondern auch in der Kulturpolitik von sich reden ließ. Selten gespielt wird auch ein Vertreter der älteren Generation, der in den siebziger und achtziger Jahren das Theaterleben dominierte und weiter Stücke schrieb: Paul Everac. Ein Dramatiker, der positiv aufgefallen und eher im Hintergrund geblieben war, George Genoiu, hat anscheinend auch Schwierigkeiten, seine neuen Dramenproduktionen auf die Bühne zu bringen.

Auch wenn Eugène Ionesco sein epochales Werk in Frankreich geschrieben hat, gilt er für die rumänische Dramatik als Übervater, da er in diesem Land aufgewachsen ist und seine Wurzeln im Werke von Ion Luca Caragiale in aller Deutlichkeit zugegeben hat. Er starb im hohen Alter 1994, und sein Tod machte dem rumänischen Gegenwartstheater noch einmal klar, wie groß seine Rolle in der Emanzipation dieser Kunstform in den sechziger Jahren gewesen ist.(6) In der Bresche, die dadurch geschlagen worden war, kamen Talente wie Iosif Naghiu und Dumitru Solomon zum Vorschein, die auf originelle Weise die "eroberte Modernität" auszunutzen wussten und gegenwärtig als anerkannte Wegweiser gefeiert werden. Ihre Stücke werden veröffentlicht und auch gespielt. Iosif Naghiu wurde im Frühling 2002 siebzig und fast wie ein "Klassiker des modernen rumänischen Theaters" gefeiert.(7) Dabei wurde nochmals in aller Deutlichkeit klar, mit welchen grauenhaften Windmühlen diese Generation in ihrer Jugend zu kämpfen gehabt hatte. Dumitru Solomon(8) war Leiter der inzwischen eingestellten Theaterzeitschrift Scena und ist zusätzlich als Lehrkraft an einer der vielen Theaterakademien tätig. Er hat eine ständige Rubrik in der Wochenschrift Dilema, die sich im postkommunistischen Rumänien gerade an die jüngere Generationen wendet, und an dieser Stelle allen Interessenten zu empfehlen ist. Nach Themenschwerpunkten werden die unterschiedlichen Aspekte des stattfindenden Überganges beleuchtet. Ion Luca Caragiale ist dabei eine Art Leitthema, was nochmals die Aktualität des im Berliner Exil verstorbenen Patriarchen der rumänischen Literatur unterstreicht. Zu der Generation der vor 1938 Geborenen gehört sowohl George Astaloș, der lange Zeit in Frankreich gelebt hat und auf eine lange Liste von Inszenierungen zurückblicken kann,(9) als auch Nicolae Breban, eine der widersprüchlichsten Persönlichkeiten der rumänischen Nachkriegsliteratur und auch korrespondierendes Mitglied der rumänischen Akademie. Bei der gerade stattfindenden Disziplinierung der Zeitschrift Teatrul azi ist er als Interimsdirektor ernannt worden.

Nochmals ein Hinweis auf das Internet, bei abschließender Betrachtung dieser Generation: Die wichtigste rumänische Literaturzeitschrift, România literară,(10) hat die biographischen Daten zur rumänischen Literatur gesammelt und geordnet. Die nun folgenden sind erst seit neuestem als Stückeschreiber hervorgetreten. Ich beziehe mich auf die Generation, die nach dem Krieg geborenen wurde. Der Älteste, mit der Theaterpraxis der kommunistischen Epoche aufgewachsen, ist Mircea Radu Iacoban. Auch Grid Modorcea war in den siebziger Jahren als Talent entdeckt worden und ist weiterhin sehr produktiv. Die beiden findet man noch auf der Internetseite von cimec.ro. Nicht aber Aurel Gheorghe Ardeleanu, Cătălina Buzioanu, Isodor Chicet, Dumitru Crudu, Horia Gârbea, Dinu Georgescu, Theodora Herghelegiu, Mircea M. Ionescu, Mihai Ispirescu, Radu Macrinici, Olga Delia Mateescu, Ion Mircea, Doru Moțoc, Valentin Nicolau, Răzvan Petrescu, Viorel Savin, Saviana Stănescu, Gheorghe Urschi, Andreea Vălean, Anca Vișdei, Matei Vișniec, Vlad Zografi, die ich hier in alphabetischer Reihenfolge angeführt habe.(11) Es sticht nicht nur der Fleiß hervor - wenn man im Theater einmal als Dramatiker reüssiert hat, ist es üblich, weiterhin "am Ball" zu bleiben - sondern auch die große sprachliche Kreativität allein bei der Wahl der Titel, die sie ihren Stücken gaben. Einige von ihnen, aufgereiht, könnten ein sehr hübsches modernes Gedicht ergeben. Geht man von der Situation der Printmedien aus, ist es sicherlich positiv zu verzeichnen - von der alten, rigiden Zensurform, ob von Staatsorganen oder von sogenannten Räten der Werktätigen, ist nichts mehr zu befürchten. Inwieweit Sponsoren oder andere neue Machtstrukturen durch die Hintertür wirken, kann ich nicht beurteilen. Das Schicksal der Tocilescu-Aufführung, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, relativiert das ermutigende Bild.

Einige der vorhin Erwähnten sind zugleich Regisseure, so Cătălina Buzoianu, Theodora Hergheliu, Radu Macrinici. Ein Name fällt seit etwa vier Jahren auf und bietet den willkommenen Anlass, auch einige theatertheoretische Betrachtungen zu riskieren: der Schauspieler und Theatermagier Dan Puric. Von Vorteil ist, dass ich alle seine Produktionen gesehen habe. Ich danke ihm an dieser Stelle, dass er mir zu Beginn dieser Arbeit wichtiges Material besorgt hat, allem voran den Sammelband Teatrul încotro?(12) - dadurch konnte ich den Anschluss an die Erkenntnisebene von vor 23 Jahren leichter und voller erfreulicher Entdeckungen vollziehen.

Dan Puric begann seine künstlerische Karriere am Mihai Eminescu-Theater in Botoșani, in der Bukowina, der Nordmoldau, weit weg von Bukarest. Die Entfernung zur Hauptstadt tat gut. Er experimentierte und kombinierte noch dort in Secvențe (Abschnitte) mit einer Verflechtung von Pantomime und Tanzelementen, wurde später nach Bukarest (u.a. auch als Assistent am Theaterinstitut) berufen und "schrieb" schließlich das Theaterstück Toujours lŽamour, ein Zweipersonenstück, in dem er selbst mit seiner Frau Carmen Ungureanu auftrat. Obwohl auf die Sprache im üblichen Sinne verzichtet wird, sehen wir eine bunte, multidimensionale Geschichte über die unendlichen Verquickungen der Beziehung zwischen Mann und Frau - voller Phantasie und Witz. Die dramatisch-philosophische Zuspitzung, die wir seit Samuel Becketts Sprachverweigerung bis hin zu einem verzweifelten Schrei(13) haben, wird von innen gesprengt und im wechselnden Licht der Bühne zurück in den Zuschauerraum gegeben: mit Wärme, mit zum Teil gespielter, zum Teil scheinbar echter Liebe, mit Tränen und Lachen. Mit Studenten, die er selbst unterrichtet hatte, gründete er eine feste Theatertruppe, mit der er weitere Erfolge feierte, und die jetzt auch als Privatkompanie Passe-Partout D.P. die nötige künstlerische Freiheit hat. Zugleich ist er societar (Gesellschaftler) des Bukarester Nationaltheaters und hat dort Rollen(14) geschaffen, die diese große Ehrung immer wieder bestätigen. Als "Stückemacher" hat er Ähnlichkeiten mit Christoph Marthaler, und zwar gerade dort, wo diese virtuose Theatralisierung des Alltags überzeugend ist. Er minimalisiert aber das Bühnenbild und hebt die Jugend und die Frische seiner Truppe hervor, was ein Gefühl der Leichtigkeit erzeugt, auf dem dann der Ernst oder der Witz seiner "Aussagen" kontrastieren und dem Zuschauer, egal ob in Rumänien, Deutschland oder im entfernten Korea, sofort einleuchten.(15) Als Philologe kann man nur begeistert sein. Diese Art des Theatermachens zwingt in letzter Konsequenz jeden Dramatiker zur äußersten Anstrengung im Umgang mit dem Wort. Die Großen in der Geschichte des kraftvollen Sprachwerkes, von Shakespeare über Schiller, Tschechow bis hin zu Pirandello, Dürrenmatt oder Thomas Bernhard, tangiert dieses Theater in keiner Weise. Im Gegenteil, oft kann man sie als eine Art szenischer Bausteine in bestimmten Situationen zitieren, und diejenigen, die in den klassischen Texten nach Gutdünken wild herumlaborieren, sind auch eines Besseren belehrt.