Gründe für einen vorsichtigen Optimismus

Durch den Zusammenbruch des Kommunismus kann auch die Entwicklung des Theaters östlich der rumänischen Staatsgrenze erkundet werden - bis 1990 war die kyrillische Schrift ein erstes Hindernis, das man aber u.U. mit etwas Mühe überwinden konnte. Das Thema Bessarabien war auch im sozialistischen Rumänien ein Tabu und ist auch heute recht problematisch.(29) Mit der Rückkehr zur lateinischen Schrift und dem Siegeszug des Internets(30) wird deutlich, welch eine interessante Konjunktur für das Theater in Chișinău gegeben ist. Nicht wenige Theaterschaffende haben in Moskau studiert, andere wieder sind erst in Paris bekannt geworden und haben nachher ein Publikum in Bukarest oder zu Hause gefunden. Es gibt auch in Chișinău ein Nationaltheater, benannt nach Mihail Eminescu, eine Schauspielschule und eine Theaterzeitschrift, von der ich aber leider noch kein Exemplar in die Hände bekommen konnte. Die neuen Namen: Dumitru Crudu, Irina Nechit und Anca Vișdei. Doch die markanteste literarische Persönlichkeit bis zur Wende, Ion Druță, lebt in Moskau und soll ein Stück Căderea Romei (Der Fall Roms)(31) geschrieben haben, in dem eine Parallele zwischen dem gegenwärtigen Zerfall des Sowjetreiches und der römischen Vergangenheit gezogen wird. Beim achtzigsten Jubiläum des Nationaltheaters veröffentlichte Teatrul azi ein Interview mit dem Direktor Vitalie Cărăuș(32). In der sowjetischen Zeit nannte es sich Teatrul Academic de Stat "A. S. Pușkin", ab dem 15. Januar 1994 kam es unter der Leitung des Regisseurs Sandu Vasilachi zu einem Neubeginn.(33) Teatrul azi machte unter dem Thementitel Et in Basarabia ego...(34) diese komplexe Situation den Theaterinteressierten Rumäniens bekannt. Erfreulich u.a. die Nachricht, dass das Chișinăuer Theater Eugen Ionescu schon seit zehn Jahren existiert und anlässlich der vierten Biennale die Zeitschrift Sud-Est(35) dieses zum Schwerpunktthema gemacht hat.

Eine weitere erfreuliche Tatsache ist das Weiterbestehen der deutschen Theater in Sibiu / Hermannstadt und Timișoara / Temeschburg - Bühnen(36), die mit Stolz auf eine reiche Tradition zurückschauen können, obwohl der größte Teil der in Rumänien geborenen Deutschen gerade nach 1990 den schon seit Anfang der siebziger Jahre eingetretenen Trend bestätigt und das Land verlassen hat. Das Temeschburger Theater wird u.a. durch das Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart unterstützt und hat eine sehr gute Internetseite.(37) Die Tradition des Hauses und das Tagesgeschehen sind dadurch jedermann auch im deutschsprachigen Raum zugänglich. Weiter möchte ich auf die deutschen Zeitungen in Bukarest, Hermannstadt und im Banat(38) hinweisen, welche die kulturellen Aktivitäten der zahlenmäßig geschrumpften deutschen Minderheit bekannt machen. Wenig Informationen bekommt man hingegen über das Teatrul Evreiesc de Stat, das Jüdische Staatstheater in Bukarest. Aber gerade in der Zeit, in der ich an diesem Aufsatz arbeitete, fand dort ein Treffen der Theaterhäuser der nationalen Minderheiten(39) statt, Gelegenheit für mich, den Jetztstand genau zu registrieren. Das ungarische Theater hat seine Hochburgen in Cluj-Napoca / Klausenburg, Tîrgu Mureș / Neumarkt und Sfîntu Gheorghe. Es gibt aber neuerdings auch private Bühnen oder ungarische Abteilungen an den rumänischen Städtischen Bühnen in Siebenbürgen und im Banat. Der Austausch mit den rumänischen Kollegen ist besonders auf der Ebene der Regie sehr rege, wie ich bereits im Falle von Vlad Mugur erläutert hatte. Tompa Gábor und Bocsárdi Lászlá müssen hiermit genannt werden, weil sie inzwischen landesweit bekannt und tätig sind.

Das Kinder- und Jugendtheater hatte seit jeher eine wichtige und professionell anerkannte Stätte im Theater Ion Creangă in Bukarest. Erfreulich ist, dass inzwischen auch in Parks Sommerbühnen(40) für das junge Publikum errichtet werden, und aus der Presse war zu entnehmen, dass ein Theater sogar eines der schlimmsten Probleme des postkommunistischen Rumäniens, die Straßenkinder von Bukarest, auf die Bühne gebracht hat.(41)

Eine ganz neue Generation von Dramatikern findet mühelos den Anschluss an die westeuropäischen virtuellen Formen. Die Zeitschrift Respiro erscheint im Internet. Seit dem Sommer 2002 wird für ein Projekt dramAcum (Drama jetzt) geworben. Die zugesandten Stücke können in der Bibliothek der Bukarester Theaterakademie eingesehen werden und man darf gespannt sein, welche sich als bühnenreif und literarisch gelungen erweisen werden.(42)

Die Situation des Gegenwartstheaters war Thema eines Kolloquiums am 22.-23. Mai 2001, zu dem die wichtigsten Theaterschaffenden zusammentrafen. Leider kann ich wegen des Platzmangels nur darauf hinweisen, dass mir die Ergebnisse unter dem Titel Teatru încontro? zur Verfügung stehen. Die Diskussion hatte ein hohes Niveau,(43) die wirtschaftlichen Nöte wurden genauso offen angesprochen wie die theoretischen oder bühnentechnischen Probleme des heutigen Theaters. Die Bezüge zur philosophischen Grundlage dieser Kunstgattung, zu dem elisabethanischen -, russisch-revolutionären - oder dem Nachkriegstheater kamen zur Sprache, ebenso wie auch Rückblicke zur schwierigen Situation im kommunistischen Rumänien und zur eigenen Theaterarbeit.

Die wichtige Rolle des Fernsehens,(44) wie etwa die des Theaterkanals für das deutschsprachige Theater, ist auch in Rumänien erkannt und gerade durch die Caragiale-Feiern in diesem Jahr verstärkt eingesetzt worden. So kann dieses Medium der jungen Generation wie auch der weltweiten Theatergemeinde das rumänische Theater nahe bringen. Viele Produktionen werden auf Filmrollen oder digital festgehalten. Es gibt seit neuestem den Sender România cultural. Das Programm kann über Internet erkundet werden, und die Sendungen sind über Satellit weltweit zu empfangen. Ion Luca Caragiales Stücke sind mehrmals verfilmt worden - jetzt kann man die großartigen Interpreten früherer Zeiten auf den Bildschirm holen. Sie stehen Pate für die neuesten interpretativen Ansätze, und dies ist nicht nur von großer Bedeutung, sondern auch sehr erfreulich. Es fördert den Nachwuchs, an dem es nicht mangelt, wie bereits die Beschreibung der Dramatik als Text gezeigt hat.

Die Gängelung des Theaters in der kommunistischen Zeit führte dazu, dass sich die Theaterleute nach Dezember 1989 zu einem unabhängigen Dachverband organisierten, Uniunea Teatrală din România (UNITER),(45) der in internationale Organisationen beigetreten ist und mit ihnen gerade in der Zeit des Umbaus der Kulturstrukturen intensiv kooperiert hat. Von dort kam auch wesentliche Unterstützung zu Beginn der Neunziger. Zum Präsidenten wurde der Schauspieler Ion Caramitru gewählt, der während der Revolution an vorderster Front gewirkt und den Umsturz durch seine Popularität auch im Fernsehen "mitgestaltet" hatte. Als 1996 die antikommunistischen politischen Gruppierungen die Wahl gewannen, wurde er Kulturminister, was selbstverständlich für das Theater nur positiv sein konnte. Nur so kann man sich die mutige bereits besprochene Caragiale-Inszenierung von Alexandru Tocilescu erklären, die eigentlich nicht verboten ist, aber auch nicht mehr gespielt wird. (Man hat sie "eingemottet". Die große Loge des Nationaltheaters gehört wieder allein den Politikern.)

Durch die Unterstützung des UNITER werden jährlich Preisträger von unabhängigen Juroren bestimmt, die für die Wertkodierung der Theaterentwicklung von großer Bedeutung sind. Nachdem die nationalistischen und postkommunistischen Kräfte im November 2000 die Wahl gewonnen haben, entstand eine Konkurrenzsituation zwischen der Ministerialbürokratie, die sich auf die Großen der alten Zeiten besann (zum Direktor des Nationaltheaters wurde Dinu Săraru bestellt), und dem stark prowestlichen UNITER. Und wie es im Theater so ist, kam es im April 2002 zu einer leicht grotesken kulturpolitischen Aufführung im großen Saal des Nationaltheaters, die obendrein vom Fernsehen live übertragen. Um den Leuten vom UNITER vorzukommen, wurden in höchster Eile die Nationalpreise, die seit dreißig Jahren nicht mehr verliehen wurden, wieder aktiviert und deren Vergabe verkündet. Jedoch gaben die ausgezeichneten Schauspieler Valeria Seciu und Marcel Iureș sowie das Bukarester Bulandra-Theater in aller Öffentlichkeit ihre Preise zurück, unter Verweis auf die Zusammensetzung und Parteilichkeit der Jury. Dan Puric trat auf die Bühne und mahnte: "Să slujești cultura, nu să te slujești de cultură!" ("Man soll der Kultur dienen und nicht sich von der Kultur bedienen").(46) Die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten: der Leiter des Bulandra-Theaters, Ștefan Iordănescu, und neuerdings auch Florica Ichim,(47) die Chefredakteurin von Teatrul azi, wurden abgesetzt. Und gerade das dämpft doch den Optimismus beträchtlich.