MARIUS
als kind hatte ich es gern
auf einem sonnenstein zu
sitzen
im rücken, auch aus stein,
ein großes kreuz
gemacht vom Ururopa, um das haus zu schützen
davor, aus holz, das große tor
zur kirche und zum friedhof
ich bild mir ein, mich oft gefragt zu haben
ob alle toten da am berg auch richtig tot
oder vielleicht zusammenkommen
und miteinander reden, wie im haus
und auf dem platz ringsrum
wenn mal am sonntag, bei
hochzeiten oder begräbnissen
das ganze dorf zusammen
war
der stein ist weg, sah ich
das letzte mal
als ich da war - jetzt spür ich ihn im herzen
seit gestern ist mein Immerfreund
auch weg, begraben, doch nicht richtig tot
du bist dann
tot, wenn keiner mehr mit achtung von dir redet
MARIUS
PETRAŞCU, der erzähler und mahner,
wird nie sterben
sein leben war gewaltiger als meins, verschrieben
mit allen tränen und dem schweiß
die ich verließ - ich sah ihn erstmals dürr und
kämpferisch
nach langer zeit, nachdem wir voneinander nur noch
sprachen
und manches
lasen - er hätte schon vor 14 jahren sterben
können
als er, bewaffnet, dort, die erste freie presse gab
und schon am ersten tag nach der befreiung
alles durchschaute
seit gestern weiß ich: er ist physisch tot
und eigentlich erst jetzt nicht
ein wiedergänger und
spitzer anti-vampir
der nun allen gesetzten kalk und ruß des bösen
aussaugt
damit das blut der menschheit
dort
endlich freier fließt
seit gestern hab ich ihn nun endgültig bei mir
zum trotz der so fatal entfernten heimat
weil noch ein freund hier
starb und ewig liegt
zündete ich nach sitte, im
regen, eine kerze an
an dessen grab: denn unser allen erde ist nur diese
Pronia, ich bekomme eben von
freunden als geschenk
ein trieb von einem guten kirschenbaum
er ist jetzt überall, schreib ich für seine leser
es passt zu ihm
zu meinem Freund mit seinem harten Kern
seit gestern quält / erleuchtet mich ein traum
den ich seit jahren habe
einer meiner besten lehrer,
ein bisher unbekannter
philosoph und mensch,
einer wie aus des denkens urzeiten
der mir - mit der sokratischen geduld
nicht nur die rumänische welt
entschlüsselte
er starb vor etwa zwanzig jahren
Ştefan
Teodorescu sagt
mir, bevor ich wache
in meinen sprachen, aber auch auf altgriechisch,
fast jedes mal
komm nicht, es
ist so langweilig hier
seit gestern sagen gedankenfilme,
vergilbte bilder, sprachfetzen
was damals studentenneugierde
war
mit MARIUS,
in Bukarest, bei alt- oder neuwein
spiegeleier und bratkartoffel
Ionescus Der König stirbt
spielen mit erzählungen
oder andersum
zusammensein im scharfem dissens
seine kraft und ausdruckssicherheit
oder früher noch, als wir, kinder
betäubt waren von den narzissenblüten
seit gestern gehe ich schlafen
fast wie das kind von
damals
was wird der gute Marius mir
jenseits der ströme, die wir kennen
des morgens in den augen
streuen?
peterhof, 1.-11. august
2003 - gi-omo heidelbergenesis
veröffentlicht
in: „Karpatenrundschau“
(Kronstadt), XXXVI/33 (2723) vom
16.08.2003, S. 2.