Georg Hermann und das Haus Poststraße 2


Gheorghe Stanomir

In Neckargemünd - meiner schönen selbstgewählten Verbannung - lebte ich lange Jahre und war mit allen gut Freund, und mir ging der angenehme Ruf voran, daß ich sehr reich wäre, weil ich in Berlin ein Kino besäße. Inzwischen hat es sich langsam herumgesprochen, daß ich nicht reich bin und Bücher schreibe: Trotzdem ist man nicht weniger freundlich zu mir.

Man sagte mir oft, ich sollte mal etwas schreiben, was in Heidelberg spielte. Aber dafür kenne ich Menschen und Landschaft hier nach zwölf Jahren noch nicht genug. Vielleicht in zwölf Jahren . . ., wenn ich sie besser kennengelernt habe.

So enden im „Kurpfälzer Jahrbuch" von 1928(1) die Erinnerungen von „Georg Hermann, Neckargemünd", betitelt „Wie ich auf Heidelberg kam"(2). Die Einleitung hierfür ist für die Rezeptionsgeschichte von Georg Hermanns Werk wichtig und wird nochmals herangezogen werden. Aber lassen wir erst noch einmal den Autor Georg Hermann selbst zu Wort kommen:

Kurz, ich war um 1914 reichlich berlinmüde und wäre froh gewesen, es eine Anzahl von Monaten im Jahre nicht zu sehen . . . auch ohne persönliche Gründe. Also ich mietete jenes Neckargemünder Haus als zweites, als Tuskulum; und alsbald brach der Krieg aus und kehrte das Unterste zu oberst. In diesem Augenblick aber dachte die Welt und Deutschland an sehr andere Dinge, als Bücher lesen und Bücher kaufen; und ich fürchtete, den Verpflichtungen, die mir zwei Wohnungen auferlegten, nicht mehr gerecht werden zu können. Ich tat das, was niemand tat - die anderen blieben einfach die Miete schuldig! - ich gab, wie ich dachte, vorübergehend meine Berliner Wohnung auf. Und in diesem Augenblicke schnappte hinter mir die Rattenfalle zu. Es war natürlich unnötig gewesen. Man las im Kriege zehnmal soviel Bücher, wie heute . . . aber die Wohnung war unwiederbringlich in die Luft gegangen. Keine Macht der Welt hat mir bis heute eine Berliner Wohnung wiederschaffen können. Das tat mir erst leid, heute bedaure ich es kaum noch. Denn mit der Zeit habe ich mich so hier eingelebt, daß ich ungern wieder nach dem Norden gehe, wenn mich nicht vertragliche Verpflichtungen vorübergehend dazu zwingen . . . aber der Pol meines Wesens tangiert nunmehr nach hier, nach Heidelberg und ins Neckartal, das mir lieb wurde durch Erinnerungen, und dessen landschaftlichem Zauber ich noch heute ebenso unterliege wie damals vor dreißig Jahren. . . .

. . . Denn gerade dort, wo man vom Hügel herab das Münster von Speyer sieht, und Rhein und Neckar manchmal weit draußen im Licht aufschimmern, wird über kurz oder lang meine Asche ruhen, neben meiner wundervollen jungen Frau, die mir vorangegangen ist . . . „die herrlichsten Gottesgeschenke werden zuerst zurückgefordert" . . . und so werde ich dem Heidelberger Frühling ewig verbunden bleiben . . .

Erstaunlich, wie unbekannt heutzutage dieser Autor ist, hat doch, soweit ich feststellen konnte, sein Roman „Jettchen Gebert"(3) es bis zu 57 Auflagen gebracht. Die Germanisten, ja sogar Heidelberger Antiquare wissen kaum etwas mit diesem Namen anzufangen. Dabei befindet sich in der Neckargemünder Archivbibliothek ein Bändchen mit Seltenheitswert: „Der Guckkasten"(4), dessen Vorwort mit „Neckargemünd, den 3. Februar 1916" datiert ist. Hinweise über Georg Hermann entnimmt man auch dem Buch „Tausend Jahre Neckargemünd 988-1988" von Günther Wüst(5). Obwohl in den alten Einwohnermeldekarteien und Registern der Stadtverwaltung keine Hinweise weiterhelfen, belegen Nachschlagewerke die Neckargemünder Zeit dieses Schriftstellers und geben auch die genaue Adresse an: Poststraße 2(6).

Nun hat die archivarische Suche ein bestimmtes Ziel. In der Tat, Akten der „Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1925" des Amtsbezirks Heidelberg, Gemeinde Neckargemünd, Zählbezirk 24, belegen unter der Anschrift Poststraße 2 den Namen „Borchart, Martha, l Haushalt, 4 Personen"(7). Der Besitzer des Grundstückes und des Hauses, welches im folgenden ein roter Faden meiner Ausführungen sein wird, heißt Georg Hermann Borchardt (mit „dt"), dies ist der bürgerliche Name unseres Schriftstellers.

Einige Informationen nach 1930 widersprechen sich, und dies nicht ohne Grund. „Wer ist's"(8) gibt 1935 folgende Adresse an: Laren, Holland, Lamberstijnen 12. Dagegen der Brockhaus von 1931 unter dem Stichwort „Hermann"(9):

3) Georg, Deckname des Schrifstellers Georg Borchardt., Bruder von Ludw. —> Borchardt., *Berlin 7. Okt. 1871, lebt in Neckargemünd. Durch kunstgeschichtl. Studien im Erfassen kultureller Erscheinungen sorgfältig vorbereitet, errang H. mit dem Roman „Jettchen Gebert" (1906), aus dem Berliner Judentum der Biedermeierzeit, einen starken Erfolg. Weniger glücklich war er mit dem Versuch, diesen Roman und seine Fortsetzung „Henriette Jacoby" (1908) zu dramatisieren (1913 und 1915), da der Hauptreiz des Werkes neben dem familienhaft-anekdotischen Behagen in der Milieuschilderung liegt. Es folgten die Romane „Kubinke" (1911), „Die Nacht des Dr. Herzfeld" (1912), „Heinrich Schön junior" (1915), „Schnee" (1921), „Tränen um Modesta Zamboni" (1927), „Träume der Ellen Stein" (1928), „Grenadier Wordelmann" (1930). In der Schrift „Vorschläge eines Schriftstellers" (1929) nimmt H. zu Fragen der gegenwärtigen Politik, der Rechtsreform usw. Stellung.

1974 verfaßte Cornelis van Liere eine Dissertation über Georg Hermann(10). Dieses Buch, auf deutsch geschrieben, ist der Grundstein für die Erforschung des Lebens und des umfangreichen und vielschichtigen Werkes dieses Autors, dessen Schicksal sich mit dem Neckargemünds zwischen 1914 und 1933/34 eng verbunden hat(11). Ein Foto des Hauses Poststraße 2, welches in dem Buch von van Liere abgebildet ist und hier übernommen wird, soll einen ersten Eindruck über jene Zeit vermitteln. Eine elektrische Bahn, die seit 1910 Heidelberg mit Schlierbach verband, war 1914 bis nach Neckargemünd verlängert worden und fuhr in unmittelbarer Nähe des Hauses vorbei, das damals „vor der Stadt" lag, wie es bei van Liere heißt. Der Garten war gepflegt und voller Blumen - vor dieser Kulisse, an einem Tisch in Sichtweite des Neckar, wurde er von den Anwohnern schreibend beobachtet. Bevor jedoch die Textstellen aus den Romanen und Essays, die darauf Bezug nehmen, zitiert und kommentiert werden, ist es angebracht, die recht komplizierten familiären Verhältnisse dieses Schriftstellers zu durchleuchten. Georg Hermann hilft durch seinen autobiographisch aufgebauten Romanzyklus „Die Kette" entscheidend mit. Da Dichtung und Wahrheit auch in diesem Fall oft auseinanderklaffen (oder, nach 1933, auf Druck der Verleger „zurechtgebogen" bzw. zusätzlich verdreht wurden), bilden die wenigen Neckargemünder und Heidelberger Archivalien und der von Laureen Nussbaum veröffentlichte Korrespondenzband zwischen Georg Hermann und seiner zweiten Tochter eine gute Grundlage(12), die durch weitere Forschungen sicherlich erweitert werden kann.

Die „drei Familien" des Schriftstellers

Da Georg Hermann zweimal geheiratet hat und mehrere Geschwister hatte, verweise ich vorerst auf van Lieres Dissertation und auf Jacobis Aufsatz, wo die Vorfahren des Schriftstellers genauestens eruiert worden sind. Die Familie war weit verzweigt, und Georg, als letztes Kind des Kaufmanns Hermann Borchardt, hat der wirtschaftliche Ruin seines Vaters wohl am schwersten getroffen. Den Vornamen des Vaters wählte der Autor sich später als Pseudonym.

Anders als seine älteren Brüder, der im Hochzeitsjahr geborene Ägyptologe Ludwig und der vier Jahre jüngere Heinrich, ein namhafter Architekt, entspricht er nicht den Erwartungen des alteingesessenen jüdischen Bürgertums in Berlin - er schwänzt die Schule und entdeckt die Welt auf eigene Faust. Früh entwickelt er eine regelrechte Sammlerwut: vorerst kleinere Lebewesen für seine naturwissenschaftlichen Erkundungen, später Biedermeiergegenstände (diese werden ihn bis in das holländische Exil begleiten) und mit Sicherheit unzählige Geschichten älterer Leute, nicht nur aus der Verwandtschaft, die den Nährboden seiner literarischen Produktion darstellen werden.

Im Neckargemünder Besucherregister ist seine Schwester Elsa (geboren in Berlin am 19. März 1866) verzeichnet. Auf die Umstände ihrer Reise an den Neckar im Sommer 1917 werde ich noch eingehen. Sie besorgte später den Haushalt des Bruders Heinrich und wird in dem Briefwechsel von Georg Hermann und seiner Tochter Hilde nach dem Tod Heinrichs im Jahre 1935 gerade wegen anstehender Erbschaftskonflikte des öfteren erwähnt.

Um die Jahrhundertwende keimte die, ich nenne sie die „zweite" Familie des damals jungen, gutaussehenden und ambitionierten Mannes. Er war kurze Zeit Soldat in Bayern (auch eine spätere Kulisse für seine Prosa) gewesen und hatte einige Semester studiert, aber auch sonst seinen Horizont erweitert. Er blieb aber seinem „Berliner Milljöh" treu, z. B. in einer Schrift über Heinrich Zille, mit dem er befreundet war.

So war er bereits 1896 an den Neckar gekommen, und, wie man dem anfangs zitierten Aufsatz entnehmen kann, hat er sich hier sofort wohl gefühlt. In dem 1917 veröffentlichten Roman „Einen Sommer lang"(13), dem ersten Teil der „Pentalogie", einer fünfteiligen „Romankette", wird als erstes Segment die glückliche, größtenteils sorglose Zeit der Verlobung dargestellt. Mit gütiger Ironie werden die zukünftige Schwiegermutter, die Schwägerin und der Schwager, der Freundeskreis und die Vermieterin des Sommerhauses in der Nähe des Nikolassees und des Wannsees gezeichnet. Die Verlobte, in den Romanen als „Annchen" verewigt, heißt Martha Heynemann (geboren am 19. Oktober 1875 in Berlin, gestorben nach dem 2. Weltkrieg in England), die zukünftige Martha Borchardt, in der Volkszählungsliste von 1925 nur mit „t" geschrieben. Sie kam aus einer wohlhabenden Familie, soll sehr musikalisch gewesen sein und hat gewiß zur materiellen Sicherheit des angehenden Schriftstellers mit beigetragen. Im Romanzyklus wird sie als neurotisch, herrschsüchtig und oberflächlich stigmatisiert - man darf allerdings nicht vergessen, daß bei der Niederschrift der Romane ihre Konkurrentin, Hermanns zweite, 25 Jahre jüngere Ehefrau nicht nur als Schreibkraft maßgeblich beteiligt gewesen ist.

Bleiben wir aber erst noch im Berlin der Jahrhundertwende. Georg und Martha heiraten. 1902 stirbt die elf Monate alte Erstgeborene (im Roman, wie bei Dickens, „L. D. — Little Dorrit"). Dieses Ereignis ist der Hintergrund des zweiten Segments der Pentalogie, 1925 unter dem Titel „Der kleine Gast" veröffentlicht. Sehr wichtig ist, daß neben der detailgenauen Schilderung einer Feier in einem Haus am Rande Berlins, bei der die bereits erwähnten neuen Verwandten und der alte Freundeskreis teilnehmen, oder der nostalgisch hochgelobten Urbanität der wilhelminischen Hauptstadt, der schicksalhafte Wandel im Leben des „alter ego" Hermanns (in den Romanen Fritz Eisner, später auch Doktorchen, Meister oder, in Anlehnung an Shakespeare, liebevoll Yorik bzw. Yorikchen genannt) angekündigt wird.

Just bei dieser Gelegenheit flattert ein Verlagsvertrag ins Haus, der die mühselige und zeitverschwenderische Arbeit für eine Zeitungsredaktion überflüssig macht und eine Konzentration auf die Romanschriftstellerei ermöglicht. In der Tat wird Georg Hermann mit „Jettchen Gebert" zu einem hochgeschätzten und wohlhabenden „Literaturproduzenten", der nun auch seine alte Vorliebe für die Biedermeierzeit und für die Kunst nachgehen kann — er schätzte Max Liebermann und warb für ihn, später für Max Slevogt und Lovis Corinth, die allesamt seine Freunde wurden und seinen literarischen Stil wesentlich beeinflußt haben. Man nennt ihn einen „jüdischen Fontäne". Seine Leserschaft ist selbstbewußt, kulturell interessiert und reich genug, so daß seine Bücher eine große Auflagenzahl erreichen.

In dieser Zeit werden die Töchter geboren: Eva (Eva Maria) - 1903, in der Romankette die „Fränze"; Hilde, mit dem Spitznamen „Mulle" bzw. „Mulleviehchen", der wir die bis jetzt veröffentlichten Briefe aus dem Exil verdanken, — 1904, die „Hanse"; Elise oder „Tretschke", 1906 — die „Grete".

Während „Wer ist's" von 1905(14) als Adresse Berlin-Friedenau, Kaiserallee 108 angibt (die heutige Bundesallee, wo 1962 der Gedenkstein für Georg Hermann aufgestellt worden ist), heißt es in demselben Nachschlagewerk von 1914(15) nur: Berlin Grunewald. Dieses Haus ist in van Lieres Monographie abgebildet. Es steht heute in unmittelbarer Nähe des S-Bahnhofes (Trabener Str. 19) und sieht dem Haus in der Neckargemünder Poststraße sehr ähnlich.

Die relative Harmonie wird durch den Beginn des Ersten Weltkrieges zugrunde gerichtet. Die Familie mietet erstmals das Haus am Neckar von einem schon seit dem Besuch 1896 befreundeten Heidelberger Architekten, Ludwig Jahn, Erbauer des Hauses Poststraße 2.

In Neckargemünd wird ein Sohn zu früh und tot geboren, 1918 oder vielleicht schon 1917, worüber aber nichts aus dem Geburts- bzw. Sterberegister des Neckargemünder Standesamtes zu erfahren ist. Wahrscheinlich ist mit diesem Ereignis der Besuch der Schwester Georg Hermanns, Elsa Borchardt, in Neckargemünd verbunden, wo sie zwischen dem 12. Juli und dem 8. August 1917 in der Pension Schneider gewohnt hat.

Unser Schriftsteller führte währenddessen wieder ein bohemienhaftes Leben in der vom Krieg erschütterten und ermüdeten Reichshauptstadt, verliebt in Lotte Samter, eine emanzipierte Redakteurin, „gescheit wie vier" - so Georg Hermann selbst, die 25 Jahre jünger ist und ihn in Kreisen der Revolutionäre, später der engagierten Pazifisten bringen und dort verankern wird. In dem Romanzyklus wird sie „Ruth" genannt und zum Mittelpunkt der „dritten" Familie. Und es kam, wie es kommen sollte: Die gesellschaftlichen Sanktionen ließen nicht lange auf sich warten. Der Schriftsteller verliert nicht nur die Achtung mancher Freunde (dafür gewinnt er neue, interessantere) und die Unterstützung der Geschwister. Die Bigamie wird offensichtlich, nachdem Lotte mitten in den Wirren der Novemberrevolution 1918 von ihrer Schwangerschaft erfährt. Es beginnt ein Versteckspiel. Georg und Lotte fliehen Hals über Kopf nach München, wo damals die Räterepublik tobte. Ein Briefkrieg mit schwerstem Geschütz wird nun mit Neckargemünd ausgetragen, und der Schriftsteller verliert beinahe die Zuwendung seiner Töchter (die Jüngste ist in Holland, um der Hungersnot in Deutschland zu entkommen) und noch schlimmer - er verliert sein Publikum. Andererseits hat ihn u. a. die Bearbeitung von „Jettchen Gebert" für Theater, Operette und Kino verhältnismäßig reich gemacht. Er reist andauernd zwischen Neckargemünd und Berlin, dann zwischen Neckargemünd und München hin und her, bringt die Anwaltskosten für die angestrebte Scheidung auf und mietet schließlich für die „dritte" Familie eine Wohnung in Schlierbach, Mittlere Aue 6(16) (heute Maisenbachweg 6), keine fünf Kilometer von dem Haus Poststraße 2 entfernt, mit Zug- und Straßenbahnverbindungen direkt vor den jeweiligen Domizilien. Für die damalige Inflationszeit ein absoluter Luxus, besitzt er sogar ein eigenes Auto.

Diese Zeit wird literarisch in den letzten drei Romanen der als „Eine Generation stirbt" betitelten Pentalogie verarbeitet. Ihr explizites Ziel ist, die Konservierung der geschichtlichen Ereignisse für die Nachwelt: „November achtzehn", „Ruth's schwere Stunde" und „Eine Zeit stirbt" sind die weiteren Titel(17). Es sind Ereignisse, gesammelt und geordnet wie kostbare Raritäten in den Vitrinen eines Museums.

Schlierbach gehörte schon damals zur Heidelberger Gemarkung. Viele der nun folgenden Erkenntnisse verdanke ich den Kollegen des dortigen Stadt- bzw. Universitätsarchivs. So gilt zum Beispiel als gesichert, daß der Schriftsteller am 3. Januar 1928 fest seinen Wohnsitz nach Neckargemünd zurückverlegt hat, zusammen mit der jüngsten Tochter Ursula, geboren am 4. Juli 1919, aus der zweiten Ehe mit Lotte Samter. Die Geburt dieses Kindes bildet den Kern des Romans „Ruth's schwere Stunde". Im letzten Roman der Pentalogie wird Ursula „Maud" genannt, und sie spricht bezaubernd den hiesigen Dialekt zum Ergötzen des Berliner Freundeskreises. Ursula bleibt bis zum bitteren Ende im Herbst 1943 bei ihrem Vater. Von ihr stammt auch die in der Sekundärliteratur vielzitierte Postkarte, aus der zu entnehmen ist, daß der alte und kranke Schriftsteller nach Auschwitz deportiert worden ist.

Martha Borchardt verläßt die Wohnung am Neckar, zieht um nach Heidelberg-Handschuhsheim, Rottmannstraße 30, also nicht weit weg in eine damals sehr moderne und komfortable Wohngegend(18).

Den Haushalt des verwitweten Schriftstellers (Lotte war im Sommer 1926 gestorben) führt zeitweilig die Tochter Hilde, sie avanciert sogar zu einer Art Sekretärin, nabelt sich dann doch ab und wird von Dänemark aus nach 1933 für ihren Vater eine wichtige Stütze und Verfechterin sein. Ihr verdanken wir die Briefe, die im „Leo Baeck Institute" aufbewahrt werden und uns nach der Veröffentlichung durch Laureen Nussbaum ermöglichen, aus direkter Quelle die Schwierigkeiten dieses Exilschicksals zu begreifen.

Von der ältesten Tochter, die am längsten in Deutschland ausgeharrt hat, gibt es im Universitätsarchiv zwei Matrikelakten, und in beiden gibt sie die Adresse „Neckargemünd, Poststraße 2" an.

Nach einem Semester in Hamburg kehrte sie nach Heidelberg zurück und beendete hier ihr Studium als Doktorin der Naturwissenschaften im Jahre 1926 - ihr Abgangszeugnis ist am 14. Oktober ausgestellt. Am 17. April 1930 heiratete sie Dr. Siegfried Rothschild. Dieser hatte, als Sohn des Kaufmanns Jean Rothschild am 13. März 1895 in Schwetzingen geboren, das Realgymnasium in Mannheim im Juli 1913 abgeschlossen, sein Studium aber vorerst am 20. Januar 1916 unterbrechen müssen, um als „Luftschiffer, Feldluftschiffer Abt. 35, 2. Armee, 17. Armeekorps im Westen" am Ersten Weltkrieg teilzunehmen. Er studierte später in Bonn und schloß sein Studium mit Promotion am 12. Mai 1927 in Heidelberg ab. Aus dem bereits erwähnten Briefwechsel Georg Hermanns mit seiner Tochter Hilde ist zu entnehmen, daß beide noch im Monat Februar 1934 „. . . irgendwo in den Hahnenhof in Ziegelhausen gezogen (sind), zwei Dachzimmer - gewiß idyllisch - aber das hätten sie in N(eckargemünd), wo ja das Dachgeschoß eingerichtet ist, umsonst haben können"(19).

Die einzige Enkelin des Schriftstellers wurde aus dieser Ehe 1931 geboren: Beate, mit dem Kosenamen „Ate". Ihr folgte ein Bruder Bibi, 1936 in Berlin geboren, wohin die Rothschilds umgezogen waren. Sie verließen Deutschland buchstäblich in letzter Minute. Die Einreise Siegfrieds (in den Briefen „Ipi" genannt) nach England wurde erstmals trotz gültigem Visums verhindert, und später ist er nach Kriegsbeginn interniert worden. Eva hat den „Verkauf" des Hauses Poststraße 2 aufgrund einer Vollmacht ihres Vaters getätigt — darüber ausführlich an späterer Stelle.

Zwischen August 1931 und Februar/März 1933 leben Martha und ihre jüngste Tochter Elise und Georg Hermann mit Tochter Ursula in der Berliner Künstlerkolonie in der Laubenheimer Straße 7.

Zu viert fliehen sie nach Holland — der Schriftsteller ist dort am 2. oder 3. März angekommen und bei seinem Freund und Verleger Emanuel Querido herzlich aufgenommen worden. Er hat die politische Entwicklung genau gespürt, bedenkt man, wie schnell die Demokratie in Deutschland erledigt worden ist: Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler Reichskanzler, am 27. Februar brennt der Reichstag, am 28. Februar werden die Grundrechte aufgehoben (nun fliehen die Borchardts), am 5. März gewinnt die NSDAP 43,9 % und hat mit den Deutschnationalen die Mehrheit, am 24. März wird das Ermächtigungsgesetz erlassen. Es kam, wie es nur kommen konnte: Bei den Wahlen am 12. Dezember 1933 hatte die NSDAP 92 % der Stimmen.

Zurück aber in die von Inflation geplagte Anfangszeit der Weimarer Republik. „Eine Zeit stirbt" führt breit aus, wie schwer die Romanfigur Ruth von dem Freitod ihrer Mutter getroffen ist, nachdem auch ihre ältere Schwester, eine anerkannte Künstlerin, vor Jahren auf dieselbe Weise aus dem Leben geschieden war. Lotte Hermann-Borchardt, Ruths Vorbild, verstarb in Heidelberg am 4. Februar 1926. Sie wird eingeäschert (wohl unüblich, da es extra vermerkt ist) und neben dem Grab ihrer im Sommer 1923 verstorbenen Mutter „in der Mitte" beigesetzt(20).

Der Grabstein ist beeindruckend gestaltet und sieht sehr gepflegt aus. Mit Sicherheit stammen die Zeilen „Die herrlichsten Gottesgeschenke werden zuerst zurückgefordert" von Georg Hermann.

Das hatte er selbst in seinem einleitend angeführten Text von 1928 zitiert. Hier, hoch über die Rheinebene und mit Blick auch zum Neckar, wollte er nach seinem Tod seine letzte Ruhe finden. Aber es sollte anders kommen.

Georg Hermann als Hauseigentümer

In einem Brief vom November 1933 an seine Tochter Hilde schreibt Georg Hermann: „Du wirst voraussichtlich Geld kriegen, da ja O(nkel) L(udwig) die Hypothek (in Neckargemünd) deckt und außerdem ein Käufer für das Haus da ist. Vielleicht fallen an 2000 auf dein Teil dabei - das wird sich in den nächsten Tagen entscheiden. Angebot ist gemacht und per bare Auszahlung auch — muß man das dann brockenweise herausziehen"(21). Es sieht so aus, als hätte er resigniert und Deutschland, also Berlin und dem Neckartal, den Rücken gekehrt. Im Februar 1934 heißt es dann:
„Die Sache mit dem Haus (in Neckargemünd) ist so weit geordnet, daß (. . .) die Subhastation aufgehoben ist (wenn nicht noch neue Schwierigkeiten kommen!) und dir ein Drittel des Hauses gehört. Auch Uschchen soll nunmehr (. . .) für zehn Jahre im Lauf von 2—3 Jahren ihre Zinsen (aus Polen) nachgezahlt bekommen. Die Schwierigkeiten, die entstanden, scheinen behoben - nur wann es beginnt, ist noch nicht ganz raus —jedenfalls wären dadurch ihre Erziehungsgelder gesichert. Schreibe du nochmal an Eva, sie soll sich hinter den Verkauf des Hauses klemmen, (. . .) es ist von allergrößter Wichtigkeit für euch. (. . .) Ich gebe Eva eine Vollmacht, das Haus zu verkaufen, und ihr teilt dann stillschweigend das, was herauskommt, oder ich teile es unter euch. Da das Haus nur noch mit kaum 4000 (Mark) belastet steht, so muß dabei für jede von euch dreien 2500—3000 herauskommen. Ich will nur, daß man mir meine Möbel davon schickt und eventuell eine Kleinigkeit für eine nette Reise davon gibt. Ich nehme an, ihr werdet so großmütig sein"(22).

Das Studium der einschlägigen Akten brachte Klarheit über die Besitzerabfolge des Hauses Poststraße 2 und eröffnete zugleich einen befremdenden Zugang zu der Zeit zwischen 1932-1934 bzw. 1949-1953. Aus Platzgründen beschränke ich mich auf die allerwichtigsten Ergebnisse.

Der bereits erwähnte Freund von 1896, der Architekt Ludwig Jahn, hatte das Grundstück am 29.11. 1901 für 29000 Mark gekauft. Am 9.10. 1914 firmiert er als Professor, mit Wohnsitz in Hildburghausen. Georg Hermann erkundigt sich am 3. 12. 1918 über die Belastungen, die auf dem Grundstück liegen und nach dem Eigentümer. Der Kaufvertrag zwischen den beiden ist auf den 7.2. 1919 datiert. Prof. Jahn wohnt nun in Düsseldorf, der Preis beträgt 36 000 Mark - davon gehen 14 000 Mark an die Katholische Stiftungsverwaltung in Karlsruhe mit 4 l/2 % Zinsen, 3500 an die Heidelberger Lehrerin L. E. mit 5 % Zinsen, und bar werden 12 500 bezahlt. Auch über die restlichen 6000 wird eine Bestimmung getroffen. Der Eintrag ist vom 21. 3. 1919, und der Schriftsteller unterschreibt: Georg Hermann Borchardt. Es kommt zu Differenzen über den Verzicht auf den Rangvorbehalt, und am 22. 5. 1926 zu einer Aufwertung auf 10 %. Ab 1932 streiten Anwälte aus Heidelberg bzw. aus Berlin in der Sache. Gegen den schon im Exil lebenden Schriftsteller wird am 21. 8. 1933 eine Zwangsversteigerung und Zwangs Verwaltung von Berlin aus bewirkt. Er läßt sich am 16. 10. 1933 durch Dr. Siegfried Rothschild und Dr. Eva Rothschild, geb. Borchardt, vertreten. Am 27. 10. 1933 beantragen der Steuersekretär R. W., Neckargemünd, Poststr. 2, und eine Anwaltskanzlei, die „Pfändung auf Grund eines Arrestes". Ab dem 30. 11. 1934 sind Mannheimer Kaufleute die neuen Besitzer, der Preis: 9500 Mark. Dabei übernehmen sie die Hypothek von 3498 Mark und überweisen 6002 Mark an die Sparkasse Neckargemünd. Davon soll Prof. Jahn 600 Mark und 700 Mark der Pfandgläubiger R. W. erhalten.

Die Vollmacht aus Holland, notariell am l. 11. 1934 beglaubigt, ist der Akte beigefügt:

Der Unterzeichnete Georg Borchhardt, genannt Georg Hermann, Schriftsteller, wohnhaft in Hilversum, bevollmaechtigt hiermit seine Tochter Frau Dr. Eva Rothschild geborene Borchhardt, wohnhaft in Ziegelhausen am Nekkar, in seinem Namen zu unterhandeln ueber Verkauf seines in Neckargemünde, Poststrasse No. 2 gelegenen Grundstücks, dasselbe zu verkaufen, den Kaufpreis und die Verkaufsbedingungen festzusetzen, den Kaufpreis zu empfangen und dafuer zu quittieren, alle zur Eintragung des Verkaufs in das Grundbuch nötigen Erklaerungen abzugeben, und weiter dazu den Unterzeichneten rechtsverbindlich zu vertreten.

Die Bevollmaechtigte soll von allen Beschraenkungen des Par. 181 D. B. G. befreit sein und ist auch berechtigt Untervollmacht zu erteilen.

Gezeichnet in Amsterdam, den 1. November 1934.

Georg Borchardt
(Georg Hermann)

Obenstehende Unterschrift des Herrn Georg Borchhardt, genannt Georg Hermann, Schriftsteller, wohnhaft in Hilversum, wird hiermit von mir, Arnold van den Bergh, Notar in Amsterdam, beglaubigt.

Das Haus wechselt am 5. 3. 1937 für nun 16 500 Mark den Besitzer. Nach Kriegsende erkundigt sich am 20. 9. 1949 das „Mannheimer Regional Office" der „Jewish Restauration Successor Organisation" (JRSO) über den „ehemaligen juedischen Grundbesitz des Georg Hermann Borchardt Villa in Neckargemünd, Poststr. 2" und bekommt zur Antwort: Einheitswert 11 900 Mark, Feuerversicherungswert 22 700 Mark, Neubaukostenbetrag 23 996 Mark. Das Haus war im Krieg zerstört worden, den Neubau zeigt die Abbildung.

Es kommt zum Prozeß vor dem Gericht für Wiedergutmachungssachen nach Art. 2 ff. des Rückerstattungsgesetzes (REG). Der erste Beschluß vom 3. 7. 1952 geht von einem Streitwert von 10 400 Mark aus. Im Absatz 4 wird erläutert, daß Georg Hermann Borchardt im „April 1933 nach Holland" geflüchtet und nach dem Einmarsch der Wehrmacht nach Auschwitz verschleppt und dort umgebracht worden sei. Merkwürdig ist, daß nur zwei Töchter genannt werden, Hilde Hansen und Dr. Eva Rothschild; den Antrag haben nicht die beiden gestellt, sondern die JRSO: Der Kaufvertrag von 1934 sei eine Entziehung im Sinne der REG.

Diesem Urteil wird widersprochen. Der Verkauf sei allein aus wirtschaftlichen Erwägungen zustande gekommen. Georg Hermann Borchardt sei seit 1931 verschuldet und nicht in der Lage gewesen, die Zinsen regelmäßig zu bezahlen; der Kaufpreis von 9500 Mark sei reell, da das Anwesen vernachlässigt gewesen wäre. Dem wird entgegengehalten, daß der Schriftsteller vor 1933 nicht mehr hätte schreiben und publizieren können, weswegen er seinen Verpflichtungen auch nicht mehr nachgekommen sei - er habe Drohbriefe erhalten und sei auch deswegen nach Holland geflüchtet. Demgegenüber wiederum wird geltend gemacht, daß das Haus nicht versteigert, sondern verkauft worden sei. Dagegen wiederum hält die JRSO die Bestimmungen des Art. 3 REG (der frühere Eigentümer war Jude) und Art. l REG vor (als solcher sollte er aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet werden). Es sei bekannt, wird angeführt, daß Georg Hermann Borchardt auf die Mitarbeit an Zeitungen usw. durch seinen Beruf als Schriftsteller angewiesen war. Eine eidesstattliche Versicherung der Tochter Eva liegt vor: Ihr Vater habe seit 1932 Drohbriefe bekommen, und seine Bücher seien verbrannt worden. Das Geld aus dem Verkauf sei auf ein Sperrkonto eingezahlt worden und (wegen eines „Devisensperrkontos") dem ehemaligen Eigentümer nicht ausbezahlt worden.

An dieser Stelle ein Zitat aus einem Brief Georg Hermanns aus dem Jahre 1938: „. . . in Neckargemünd, wo ich lange Jahre wohnte, äußerte sich der Naziobmann: ,Schade, daß Herr B nicht mehr da war, wir wollten ihm die Kehle durchschneiden!´"(23)

Über den Verbleib der 6002 Mark sind für die Gerichtsverhandlung keine Unterlagen mehr vorhanden. Andererseits werden kleinere Überweisungssummen angeführt, z. B. am 18. 5. 1935 nach Heidelberg-Rohrbach und nach Berlin, oder etwa am 24. 2. 1936 an Dr. Rothschild in Berlin und an einen Hamburger Anwalt.

Das Gericht faßt folgenden Beschluß: Die JRSO muß dem Angeklagten 6002 Mark, entsprechend 600,20 DM, nachzahlen. Dieses Urteil wird vom Wiedergutmachungssenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe am 13. 2. 1953 bestätigt.

Die neuen Eigentümerinnen sind ab dem 6. 5. 1953 die vier Töchter des Schriftstellers, die nicht nach Deutschland kommen, sondern hierfür Vollmachten geschickt haben. Im Jahre 1953 lebten in England Eva Rothschild (Wellington) und Liese Borchardt (London), in Kopenhagen Hilde Hansen und in Israel Ursula Ben-Dror. Aufgrund dieser Vollmachten wurde danach das Haus an die heutigen Besitzer verkauft.

Die deutsch-jüdische kulturelle Identität Georg Hermanns

Welche Informationen enthalten die jüdischen Nachschlagewerke über unseren Autor? Im zweiten Band des „Jüdischen Lexikons" von 1928 steht folgendes:(24)

HERMANN, 1. Georg (Pseudonym für Georg Hermann Borchardt), Dichter, geb. 1871 in Berlin, lebt in Neckar-Gmünd. H.'s bekanntestes Werk ist der von ihm später auch dramatisierte Roman aus dem Berliner jüdischen Milieu der Biedermeierzeit, „Jettchen Gebert" (1906, jetzt 120. Tausend) und dessen Fortsetzung „Henriette Jacoby". Der Roman „Heinrich Schön jun." spielt in Potsdam und überträgt das Don Carlos-Motiv ins Biedermeier. Eine Berliner Milieudichtung zu Beginn des 20.Jhdts. ist der Roman „Kubinke". Als j. Bekenntnisroman darf „Die Nacht des Dr. Herzfeld" betrachtet werden (1912). 1927 erschien von H. ein Roman „Tränen um Modesta Zamboni". Seine Stellung zum J.-tum hat H. zuletzt in der polemischen Schrift „Der doppelte Spiegel" (Berlin 1926) dargelegt. H. verbindet offenes Bekenntnis zum J.-tum mit deutschem Volksbewußtsein; er gehört dem * Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens an. Auch als Kunstkritiker ist H. hervorgetreten.

Etwas kürzer gefaßt ist der Artikel in der „Encyclopaedia Judaica" von 1931(25). Auch „The Universal Jewish Encyclopedia in ten volumes", 1948 in New York verlegt, weiß nichts über die Zeit nach 1927 zu berichten. Ähnliche Erfahrungen macht man mit dem „Dictionary Catalog of the Klau Library". Für die nachfolgenden Überlegungen zur rezeptionsgeschichtlichen Skizze zitiere ich im folgenden in voller Länge die erschreckend lückenhaften Hinweise der „Encyclopaedia Judaica" von 1978(26).

HERMANN, GEORG (pen name of Georg Borchardt; 1871-1943). German novelist, essayist, and art historian; brother of Ludwig *Borchardt. Born in Berlin, Hermann lived there until 1933, when he emigrated to Holland. After the Nazi invasion of the Netherlands, he was deported to Auschwitz, where he died. Hermann's life and literary work were rooted in the liberal bourgeoisie of Berlin, and his novels have sociological as well as artistic value. He had psychological insight and a gift for minute description of detail, and his poetic realism differed sharply from the naturalist school of writers´ emphasis on daily life. Hermann published essays on the fine arts, sketches, and short stories; his most successful works were the novel Jettchen Gebert (1906) and its sequel. Henriette Jacoby (1908). This work, sometimes called „the Jewish Buddenbrooks", portrays a cultivated Berlin Jewish family in the 1840s. Countering the 19th-Century tradition of the German novel, which pilloried the Jews as shady businessmen and fortune hunters. Hermann succeeded in demonstrating the high Standards of two generations of wealthy Jews. The modern Jewish intellectual, with his many inner complexities, appears in the novel Die Nacht des Dr. Herzfeld (1912) and its sequel, Schnee (1921). In 1928 Hermann returned to history in Traenen um Modesta Zamboni, the scene of which is Potsdam in the reign of Frederick the Great. The same town in the mid-19th Century is the background for the novel Heinrich Schoen junior (1915).

Mit der Geschichte des europäischen Judentums nach 1848 habe ich mich - bis auf die Untersuchungen von Ion Luca Caragiales „Eine Osterkerze" und der Problematik des Berliner Friedens von 1878 für Rumänien - recht selten befaßt. Georg Hermanns Bücher führen ein in eine vielschichtige und sehr interessante Welt, die bis zum Aufflackern des Nationalismus kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges relativ harmonisch zu sein schien - im Sinne Adornos sehr fruchtbar und modern. Während dieser Zeit war unser Autor federführend im literarischen Leben Berlins. Danach hat er an der Seite seiner zweiten Ehefrau Lotte einen Neuanfang hier am Neckar während der Weimarer Republik nicht nur gewagt, sondern überzeugend und erfolgreich auch bestritten.

Über die Rolle der jüdischen Intellektuellen in der deutschen Geschichte konnte man damals vorerst noch kommunizieren und in der Sache streiten. Um den Rahmen dieses Aufsatzes nicht zu sprengen, verweise ich auf die Untersuchungen des Aachener Germanisten H. O. Horch und des Amerikaners G. L. Mosse(27). Georg Hermanns Stellungnahme zu dieser Frage finden wir in dem in den meisten Nachschlagewerken angeführten Essay „Der doppelte Spiegel"(28). Das Buch steht (mit Hakenkreuzstempel!) im Germanistischen Seminar in Heidelberg - eine Kopie in der Neckargemünder Archivbibliothek. Hier einige Zitate:

Ja sogar über die simpelsten Dinge, die mich selbst angehen, bin ich schwankend geworden. Über meine Abkunft, über meine Rasse, über meine Mentalität, meine Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft, in die ich hineingeboren wurde, und über den Wert oder Unwert meiner Umgebung, des Volkes, dem ich der Nationalität nach angehöre....

Und ich hatte außerdem noch das große Glück: Jude zu sein. Wie Fontane das Glück hatte, deutschsprechender Franzose zu sein. Das heißt, ich hatte das Glück, hineingeboren zu sein in den Herzensmittelpunkt des damaligen Deutschlands, und zugleich Distanz zu haben. Ich wurde weder gefördert, noch allzusehr behindert, und lebte mein Leben für mich und mit jenen.

Niemand hat früher daran gedacht, im Buch und Stück eines Schnitzler das Werk eines Juden und Semiten, in dem eines Hauptmanns das eines Christen und Germanen zu sehen. Beides war deutsche Literatur. Oder in dem eines Stephan George die Dichtung eines Christen, in dem eines Hofmannsthal oder Werfel die Dichtung eines Juden. Beides waren formal vollendete Verse in deutscher Sprache . . . Aber heute sagt sich selbst ein Schriftsteller wie Flake, der „jenseits von Für und Wider steht", hat's ein Jude oder ein Christ geschrieben, ein Semit oder ein Germane?(29)

Fassen wir nochmals zusammen, bevor die letzten Bezüge zwischen dem Schriftsteller und seinem Haus am Neckar vorgetragen werden. Georg Hermann verliert sein Haus, weil er als Jude 1933 ins holländische Exil gegangen ist. In der Zeit, in der seine erste Ehefrau und deren Töchter in Neckargemünd gewohnt hatten, hatte er, unter intensiver Mithilfe seiner zweiten Ehefrau, regelmäßig für die Amsterdamer Zeitung „Algemeen Handelsblad", im Feuilleton zum Wochenende zwischen dem 29. 10. 19921 und dem 8. 5. 1926 (also bis wenige Monate nach Lottes Tod), seine „Brieven over de duitsche literatur" veröffentlicht. Für den Literaturhistoriker ein glücklicher Fall: Man kann Einflüsse und literarische Produktion vergleichen. Für Georg Hermann hatte es vormals einen sehr praktischen Vorteil - er war in Holland bekannt, sein Neubeginn im Gastland relativ leicht. Noch wichtiger für die Rezeption dieses fast vergessenen Autors sind jedoch die Forschungsergebnisse des Holländers Cornelis G. van Liere, der kurz nach seiner Promotion am 27. März 1976 verstarb. Er stand mit den meisten „Georg-Hermann-Kennern bzw. -Liebhabern" in Holland, in der DDR und Bundesrepublik, in England, Israel oder Amerika in engster Verbindung. Einen Teil seiner Sekundärliteraturliste könnte er vom Autor direkt oder von dessen Erben übernommen haben. Als Nicht-Westdeutscher konnte er wahrscheinlich auch leichter Kontakte zu DDR-Verlagen knüpfen. Jedenfalls ist seine Bibliographie exakt und chronologisch oder nach Gattung bzw. Sprache übersichtlich geordnet; die reproduzierten Bilder gut gewählt. Für die Rezeptionsgeschichte ein wichtiger Schritt, auch wenn man, wie bei jeder Pionierarbeit, einiges vermißt, u. a. die Problematik der Autorenrechte („November achtzehn" erschien z. B. als Reprint, genehmigt von der „Erbgemeinschaft Georg Hermann, vertreten durch das „International Literatur Bureau B. V. Hilversum) oder das Schicksal seiner sicherlich sehr wertvollen Biedermeiersammlung. Van Liere hat auch für die relativ seltenen nachfolgenden Studien die Problematik des „jüdischen Erzählstils" aufgeworfen(30) und darin eine Erklärung für die mangelnde Rezeption dieses Schriftstellers nach 1945 gesehen. Ich greife sie auf, weise zugleich auf zwei zusätzliche Aspekte hin: die Verdrängungen im breiten Spektrum des literarischen Lebens trotz Adornos Auschwitz-Postulat und die Änderung der Lesegewohnheiten nach der Einführung der neuen Medien. „Aufbauformen des Romanwerks" (van Liere) können in der Tat speziell jüdischen Ursprungs sein. Man sollte aber nicht übersehen, daß die meisten vielgelesenen Romanautoren aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg (Remarque, Du Gard, Wassermann usw.) heutzutage für Buchhandellehrlinge Unbekannte sind. In diesen Büchern wurde nicht nur viel gehandelt, sondern auch viel geredet, über alles, was damals kein Radio und keine Talkshow in Sekundenschnelle unters Volk brachte. So war neben Zeitungslesen der „Hausautor" der Freund der langen Abendstunden. Die Erzählweise Georg Hermanns entspricht im großen und ganzen der der damaligen Zeit. Unser Autor hat durch Fleiß, Problematik und Sprachgefühl seinen Stil, den „Georg-Hermann-Stil" geschaffen. Seinen damaligen Berühmtheitsgrad bestätigt überzeugend Robert Neumanns Parodie „Mit fremden Federn": Georg Hermann ist gleichwertige Vorlage wie Thomas und Heinrich Mann oder wie Carl Sternheim.

Georg Hermanns literarischer Ruhm und das Neckartal

Anders als Marcel Proust war unser Autor kein Sucher nach der verlorenen Zeit, sondern ihr Darsteller mit jenen künstlerischen Mitteln, die seine Vorgänger bereits geprobt hatten. Aber der schon damals auftretende Informationszuwachs, die Möglichkeit zu reisen und viele Ausstellungen zu besuchen, stellte die Literaten vor neue Probleme. In Hermanns Prosa gibt es sehr oft Situationen, bei denen er ohne Umschweife zugibt, daß ihm seine bewährten Gestaltungsmöglichkeiten nicht mehr weiterhelfen: Dann verweist er, ähnlich wie Proust, auf Analoges aus der Musik oder der Malerei bzw. Kunstgeschichte. Proust hat seinen Balzac überwunden, Hermann blieb seinem Fontane treu.

Ich greife aus der langen Liste seiner Romane den aus, der diesen Unterschied in der literarischen Gestaltung am besten dokumentiert, hier am Neckar nach dem Tod seiner zweiten Ehefrau entstanden ist, und wirkungsvoll eine großartige Liebesgeschichte mit der Darstellung des aufkommenden Faschismus und einer intelligent geflochtenen Identitätskrise eines deutschen Gelehrten verbindet: „Tränen um Modesta Zamboni"(31). Die Handlung des Buches spielt in Italien, ein Land, für das Hermann schwärmte. Aus diesem Grund die eingehende Kritik der kurzlebigen Heidelberger Monatsschrift „Italien" aus der Feder des Werner von der Schulenburg(32):

Aber wie ist das Thema von Georg Hermann „Tränen um Modesta Zamboni" gestaltet! Ganz langsam, mit einer beglückenden Sicherheit, wird der Faden gesponnen, die Steigerung herbeigeführt; noch auf Schweizer Boden, in italienischer Kulturwelt, in Lugano, erfolgt die erste blitzartige Erlösung des nordisch Gebundenen, vor dem großen Fresco Luinis.

Wie auch in Luigi Pirandellos „Il fu Mattia Pascal" handelt der Roman von einer Identitätsspaltung. Letzterer war schon 1904 im Feuilleton der „Wiener Fremdenblätter", dann 1925 in einer Neuübersetzung und einer Verfilmung dem deutschen Publikum bekannt geworden.

Ein anderer, im holländischen Exil abgeschlossener Roman über das Berliner Milieu, „Rosenemil", steht ebenfalls im Schatten eines viel bekannteren Werkes mit ähnlicher Thematik: Alfred Döblins(33) „Berlin Alexanderplatz", vor Jahren von Rainer Werner Fassbinder für Kino und Fernsehen aufgegriffen und einem breiten Publikum erneut zugänglich gemacht. Dabei hatte die Neuveröffentlichung dieses Romans von Georg Hermann im Jahre 1962(34) und das meisterhafte abschließende Essay von Hans Scholz Hoffnungen auf die Wiederentdeckung Georg Hermanns geweckt. Im Westteil Berlins wurde ein Park nach ihm benannt und ein Gedenkstein aufgestellt. Nach dem Mauerbau hatte ein regelrechter Kampf um das Erbe dieses mit Alt-Berlin so verbundenen Schriftstellers begonnen. Im Ostteil wurde eine Ausstellung organisiert. In dieser Rezeptionswelle ist auch die kurze Einleitung des anfangs zitierten Textes „Wie ich auf Heidelberg kam" im „Heidelberger Fremdenblatt" vom 15. 7. 1964 zu verstehen:

Georg Herrmann, eigentlich Georg Hermann Bochardt, war seinerzeit, in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg und vor 1933, als Schriftsteller, Journalist und Kunstkritiker in Deutschland weithin bekannt. Vor allem seine Romane „Jettchen Gebert" und „Henriette Jacoby, in denen er eine Schilderung des jüdischen Familienlebens im Berlin der Biedermeierzeit gibt, fanden weiten Anklang und sind noch heute bei der älteren Generation in guter Erinnerung. Nach Stil und Themenwahl stehen sie unmittelbar in der Nachfolge Theodor Fontanes. Der Roman „Rosenemil'', eines der lebendigsten Porträts der Berliner Unterwelt, das überhaupt existiert, ist kürzlich in der Süddeutschen Verlagsanstalt wie der auf gelegt worden. Georg Hermann erlitt das furchtbare Schicksal der deutschen Juden: er emigrierte 1933 nach Holland, fiel aber im zweiten Weltkrieg in die Hände der Gestapo und kam in oder während des Transports nach Auschwitz um. In diesem Zusammenhang gewinnen seine Zeilen über das Grab, das er sich auf dem Heidelberger Friedhof wünschte, eine besondere und tragische Bedeutung. Wir fanden das Kapitel „Wie ich auf Heidelberg kam" in seinem 1929 erschienenen Buch „Die Zeitlupe" und drucken es hier mit freundlicher Genehmigung seiner Erben ab.

Es kam jedoch nicht, wie es hätte kommen können. Die andauernden literatur- und kulturpolitischen Schwankungen der DDR-Regierung wirkten sich auch negativ auf die Verbreitung dieses doch so eigenwilligen und schwer zuzuordnenden Literaten jüdischer Herkunft aus, dessen Agenten (im wörtlichen Sinne) im NATO-Land Holland saßen. West-Berlin wiederum ließ auf dem genannten Gartengelände eine Kindertagesstätte (Pestalozzi-Fröbel-Haus, Eingang Bundesallee Nr. 80) bauen und entfernte den Gedenkstein. Im Rathaus Schöneberg ist über seinen Verbleib nichts bekannt. Auch nach dem Fall der Mauer sucht man dort vergebens nach Georg Hermanns Namen - so ist der Schriftsteller erneut „ermordet" worden, nachdem ihn sowohl Albert Soergel 1961(35), als auch die germanistische Exilforschung(36) mit wenigen Ausnahmen übergangen hatten.

Als hätte er dies vorausgeahnt, läßt er sein „alter ego" in der Romankette nach der Schilderung der Novemberrevolution 1918 auch Yorick/Yorikchen heißen. So hieß in Shakespeares „Hamlet" der Spaßmacher des Königs, dessen Schädel der Prinz in der Ersten Szene des V. Aktes in den Händen hält und sinniert: „Ach armer Yorick! — Ich kannte ihn, Horatio; ein Bursch von unendlichem Humor, voll von den herrlichsten Einfallen".

Der Yorik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, alias Georg Hermann, schwärmt von dem Stadtkern Neckargemünds, dem „Markt in so einer neckischen, süddeutschen Kleinstadt; alte Giebelhäuser mit Wirtshausschildern und einer alten Marktlinde, klein wie ein Spielzeug.“(37)

Ein Bild, wie man es von alten, vergilbten Postkarten kennt. Und sein Haus am Neckar, Poststraße 2:

Es ist ein sonniger, ganz reiner Julitag noch mit einem tiefblauen Himmel über den grünen Bergen. Ostwind dabei, und alles ist deshalb sehr weiträumig. Die Waldberge haben helle Kanten gegen den Himmel, und man sieht deutlicher als bei West ihre Wellen und ihre Gliederung. Die Seitentäler, die sonst wie Kulissen wirken, die zu nahe an die Rampe herangerückt sind, sind heute von großen, fast nicht endenden Tiefen.

. . . Und wie schön heute der Fluß ist. Er ist niedrig, ganz graugrün, kaum angefärbt von den roten und lehmgelben Erden, die er mitgerissen, und so schnell ist er, daß die kleinen Boote nur so in seinen Strudeln dahinjagen. . . .

Da ist das Haus. Es könnte mal renoviert werden, von außen etwas gestrichen und im Fachwerk etwas verputzt werden, und der Garten wartet auch der Schere des Gärtners seit bald fünf Jahren wieder. Aber das Obst hat so reich angesetzt, daß die Bäume gestützt werden mußten. . . .

Alles ist in den vier Wochen noch weiter zurückgekommen, das sieht Fritz Eisner mit einem Blick in das Treppenhaus, schon. Er geht durch die ungelüfteten, halbdunklen Zimmer unten, stößt die Holzläden auf, und wie eine Staubschicht empfindet er diese Schicht von Unfrohheit, die über all den schönen Dingen jetzt liegt, die er in bald zwei Jahrzehnten sich mühselig zusammengetragen hat, und mit denen er bis vor kurzem doch so verwachsen war. . .(38)